Nach all den Krisen und Katastrophen (Klima, Flüchtlinge, Wirtschaft …) nun noch der Corona-Virus. Selbst „Hartgesottene“ können sich nicht mehr dem allgemeinen Gefühl von Bedrohung und existentieller Unsicherheit entziehen. Mit Ausgangssperren und sozialem Stillstand konzentrieren sich nun die zwischenmenschlichen Beziehungen auf das häusliche Miteinander. Das „Aufeinander-Hocken“ auf engstem Raum kann schnell zu einer echten Belastungsprobe für die Partnerschaft werden, auch für Paare, die schon lange zusammen sind. Die individuellen Bedürfnisse nach Nähe und Distanz und Regeln für das Miteinander zu Hause müssen neu ausgehandelt werden. Wie gehen die Partner mit dieser Herausforderung um?
Im schlimmsten Fall kommt es wie in Spanien zu verstärkter häuslicher Gewalt oder zu sprunghaft ansteigenden Scheidungsraten wie in China/Wuhan. So schlimm muss es ja nicht kommen, dennoch ist es nur natürlich, wenn Menschen in Krisensituationen schneller gereizt aufeinander reagieren, erst recht, wenn die üblichen außerhäuslichen Verpflichtungen und Ablenkungen wegfallen („Lagerkoller“). Die Enge und der Stress verengen die Wahrnehmung des Gegenübers, bestimmte Verhaltensweisen und Eigenarten, die vorher gar nicht so aufgefallen sind, werden nun eher als störend oder gar als „verletzend“ erlebt, z.B. „Die ist ja echt chaotisch!“ oder „Der ist ja echt zwanghaft!“. Alte ungelöste Konflikte brechen schneller auf mit dem Tenor: „Du siehst mich nicht!“ (meint: „Du kannst mein Anliegen nicht nachvollziehen!“) und/oder „Du verstehst mich nicht!“ (meint: „Du kannst meine Not nicht mitfühlen!“). Das kann schnell den Fortbestand der Partnerschaft in Frage stellen.
Im besten Fall kann das gemeinsame Bewältigen der Krise aber auch eine Stärkung oder Neu(er)findung der Partnerschaft und des Wir-Gefühls (des „Herzensbands“) bewirken. Dazu einige Erfahrungen und Anregungen aus unserer aktuellen Arbeit mit Paaren:
Dem Alltag im Krisenmodus eine Struktur geben
Die erste Frage an die Paare ist: Wie gestalten Sie Ihren Alltag, erst recht, wenn sie Home-Office machen und die Kinder durch die Wohnung turnen? Hier lohnt es sich, genau zu planen, Absprachen zu treffen, dem Alltag eine Struktur zu geben (gerade Kinder brauchen das), z.B. feste Essenszeiten, Zeiten, in denen jeder ungestört arbeiten kann, Pausen einplanen, z.B. einen kleinen Spaziergang, und das Abend- und Wochenendprogramm gestalten. Das muss gemeinsam verhandelt werden, damit jeder zu seinem Recht kommt. Für die Zeit Zuhause bieten die Medien alle erdenklichen Angebote, Dokumentationen, Live-Streams von Konzerten, Serien, Kinderprogramme etc. Auch alte Familienspiele können wieder hervorgeholt werden. Es ist wichtig, sich in der „freien Zeit“ auch mal abzulenken, denn kein Mensch kann allzu lange im Krisenmodus leben. Und pflegen Sie über Telefon, Chats usw. die Kontakte zu Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen.
Regelmäßiger emotionaler Austausch
Doch alle Planungen und Aktivitäten zur Bewältigung des Alltags können die Gefühle nur überdecken, die meist unter der Oberfläche mitschwingen: Unsicherheit, Ohnmacht, Einsamkeit, Ängste bis hin zu Panikzuständen oder völliger Gefühllosigkeit. Mit wem sonst, wenn nicht mit meinem Liebespartner kann ich sie teilen? Das ist nicht selbstverständlich, die meisten Paare, die zu uns in die Beratung kommen, beklagen auch im Normalzustand die seltene „Quality Time“ für sich als Paar. Die ist aber gar nicht so leicht herzustellen, denn für viele ist es erstmal ungewohnt, für manche sogar nervig, soviel über sich und seine Gefühle zu reden.
Eins der Corona-Gerüchte lautet, plötzlich hätten die Paare ein leidenschaftliches Liebesleben und in neun Monaten wird es einen Babyboom geben. Das hat sich schon nach dem großen Stromausfall in New York 1965 als Mythos erwiesen. Die überall verbreiteten Empfehlungen zum Infektionsschutz erzeugen vielleicht sogar den spontanen Impuls, Abstand zu halten, der Partner/die Partnerin könnte ja den Virus vom Einkauf im Supermarkt mitgeschleppt haben.
Um dem zu begegnen, empfehlen wir jedem Paar, sich – möglichst einmal am Tag – die Zeit für einen sog. „Emotionalen Check-up“ zu nehmen, in einer ruhigen und bequemen Atmosphäre, sich gegenübersitzend.
Der Sprecher/die Sprecherin hat 15 Minuten Zeit, von sich zu erzählen, was er/sie am Tag erlebt hat und welche Gefühle damit verbunden sind. Der Andere hört zu, zugewandt und ohne Wertung. Nach den 15 Minuten fragt der Zuhörer/die Zuhörerin: „Was brauchst Du von mir?“ Der Sprecher/die Sprecherin äußert einen möglichst konkreten Wunsch, z.B. eine Tasse Tee, eine Umarmung oder ähnliches. Der Hörer/die Hörerin schaut, ob er/sie den Wunsch erfüllen mag. Nach einer mehrminütigen Pause wird gewechselt.
Wenn dem Sprecher/die Sprecherin mal nichts einfällt, schweigt er/sie eben und hört in sich hinein, meist kommt dann doch was. Der Zuhörer/die Zuhörerin hört „nur“ zu, unterbricht nicht, was manchmal nicht einfach ist, denn das Gehörte löst ja auch in ihm/ihr Gefühle aus. Nach dem Austausch keine Diskussionen über das Gesagte bzw. Gehörte, am besten auf sich wirken lassen, eine Nacht drüber schlafen! Das schließt natürlich nicht Gesten von Zugehörigkeit und Intimität aus, allein ein Sich-Anlächeln aktiviert Hirnareale, die für Ihr Wohlbefinden sorgen. Und Humor hilft immer: im Netz finden sich viele witzige Videoclips zur Alltagsbewältigung in Corona-Zeiten.
Unterbrechen einer Streitspirale
Es ist nur natürlich, dass jeder Mensch in Bedrohungssituationen auf früh erlernte Überlebensstrategien zurückgreift, um hohe psychische Anspannung zu regulieren: Der Eine braucht mehr Zeit für sich, der Andere braucht mehr Zuwendung. Es gibt dabei kein „richtig“ oder „falsch“, aber viele Missverständnisse. Bei Singles ist das kein Problem, in einer Liebespartnerschaft kann es aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse und Abhängigkeiten voneinander jedoch schnell zu heftigen Konflikten kommen.
Jeder kennt das Phänomen, dass im Zustand höchster Erregung bzw. tiefen inneren Rückzugs ein konstruktiver Austausch nicht mehr möglich ist, man sieht und hört das Gegenüber nicht mehr, ist sozusagen im „Tunnelblick“. Da hilft nur, so schnell wie möglich eine „Auszeit“ zu nehmen, z.B. mit dem Satz „Aua! Das tut mir weh!“. Für solche Notfälle haben die meisten Menschen eigene Strategien, um sich wieder zu beruhigen, z.B. sich aufs Zimmer zurückziehen, einen Spaziergang machen, einen Freund/eine Freundin anrufen, sich mit bestimmten Aktivitäten ablenken. Aber bitte nicht einfach wortlos die Tür hinter sich zuknallen, sondern ankündigen, dass man sich für eine bestimmte Zeit zurückzieht, um sich zu beruhigen, um danach wieder respektvoll aufeinander zugehen zu können.
Die Beziehung überdenken, sich neu kennenlernen
Die gegenwärtige Krisensituation verschärft den Blick auf den Partner/die Partnerin und den Wert der Partnerschaft. Vielleicht tauchen Fragen auf wie „Kann ich ihm/ihr vertrauen, wenn ich in Not bin?“ „Kann er/sie meine Gefühle verstehen?“ „Will ich diese Partnerschaft?“ Wenn der emotionale Austausch bisher eingeschränkt war, bietet sich nun hoffentlich die Chance, wieder mehr ins Gespräch zu kommen. Das ist erstmal eine „innere“ Arbeit: Was habe ich an dem Anderen und wo enttäuscht er mich? Gibt es etwas was ich ihm/ihr noch nicht verziehen habe?
Am besten nimmt sich jede/jeder Zeit, zwei Listen anzufertigen: auf Liste 1 kommen all die positiven Verhaltensweisen und Eigenschaften, die Sie an ihm/ihr mögen, die sie/ihn „liebenswert“ machen. Auf Liste 2 kommen alle negativen Verhaltensweisen und Eigenschaften. Die negative Bewertung entsteht meist durch unerfüllte Erwartungen, denn der Partner/die Partnerin ist leider nicht genauso, wie ich es am liebsten hätte! Nun seien Sie radikal: Zerreissen Sie diese 2. Liste. Statt auf das zu schauen, was sie nicht haben und was Ihr Partner/ihre Partnerin vielleicht auch gar nicht erfüllen kann, konzentrieren Sie sich nun auf Liste 1 und richten Ihren Blick auf das, was sie an ihm/ihr haben. In einem ruhigen Moment können Sie diese Liste ihrem Partner/ihrer Partnerin vorlesen. Das kann der Beginn eines vertrauensvollen Austausches sein, in dem der Eine den Anderen so nimmt und wertschätzen kann, wie er/sie ist.
Die gemeinsame Notsituation kann auch Anlass sein, alte Gräben zuzuschütten, um wieder aufeinander zugehen zu können. Dies bedeutet oft die Bereitschaft, einander alte Verletzungen zu verzeihen. So kann wieder Neugierde auf den Anderen entstehen: Wie ist sie/er wirklich? Was habe ich noch nicht an ihm/ihr verstanden? Was kann ich ihm/ihr geben?
Was uns wirklich wichtig ist
Bewusst oder unbewusst entstehen in existenziellen Notlagen Sinnfragen, über das Sterben, über das bisherige Leben. Warum sich nicht darüber austauschen, an einem gemütlichen Abend oder bei einem Sonntagsspaziergang? Gehen Sie zusammen Fragen nach wie: Was ist uns wirklich wichtig? Wollen wir wie bisher weiterleben? Was brauchen wir wirklich und auf was können wir verzichten? Vielleicht entsteht dadurch auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein Umdenken, denn ein „Weiter so wie bisher“ und „Immer höher, schneller, weiter“ scheint nicht mehr zu funktionieren.
Hilfen für Paare in Not
Paare brauchen manchmal Unterstützung darin, seelische Belastungen gemeinsam zu bewältigen. Schon die Entscheidung, eine Paarberatung oder Paartherapie in Anspruch zu nehmen, ist ein erster Schritt, die bestehenden Probleme gemeinsam lösen zu wollen. Hier gibt es Hilfen durch Paarberatung und -therapie, ob persönlich, telefonisch oder auch per Video. Eine Liste qualifizierter Paartherapeutinnen und Paartherapeuten finden Sie unter norddeutsche-paarakademie.de oder wilder-frieden.de
von Anna Finne-Teschke und Dr. Dieter Teschke
Der Text kann auch hier als PDF heruntergeladen werden.