Jeder tut es, überall kann man darüber lesen und hören – doch wie sieht es mit unseren ganz persönlichen Wünschen und Erwartungen aus? Sexualität ist das Natürlichste der Welt, schließlich sorgt sie für das Weiterbestehen unserer Spezies. So gut wie jeder Mensch hat früher oder später im Leben Sex, eigentlich sollte das Ganze also nicht weiter der Rede wert sein. Und dennoch: Sex sells – wir verbinden damit so viel mehr als nur den Fortpflanzungsakt: Männer sollen potent sein, männlich, jederzeit bereit, Frauen hingegen schön, mit perfekten Körpern, um den Männern (und sich selbst?) zu gefallen und sie für sich zu gewinnen, Nebenbuhlerinnen auszustechen. Das hört sich ziemlich archaisch an, nicht wahr? Sex ist natürlich noch viel mehr, er kann – das hat sich die Natur ganz wunderbar ausgedacht – zudem auch noch Spaß machen.
Der berühmte Flow – ein Glücksgefühl, ausgelöst durch Endorphine –, den zum Beispiel ein Künstler erlebt, der in seine Arbeit vertieft ist und alles um sich herum vergisst, wird auch während des Liebesaktes, zumindest aber beim Erleben eines Orgasmus erfahren. Darüber hinaus kann Sexualität auch sehr viel Nähe erzeugen, etwas, wonach sich die meisten von uns sehnen. Die Forschung zeigt, dass das „Bindungshormon“ Oxytocin nicht nur bei stillenden Müttern, sondern auch während des Liebesspiels ausgeschüttet wird. Und obwohl das alles erst einmal ziemlich erstrebenswert und einfach klingt, sind die Illustrierten on- wie offline voll mit Artikeln zum Thema Sex, die Regale biegen sich unter einer Vielzahl an Ratgebern, die endlich „guten“ Sex versprechen.
Es scheint also doch alles nicht so einfach zu sein … Vergessen wird nämlich leider oft, dass wir Sexualität nicht unabhängig von zwischenmenschlichen Beziehungen, Erwartungen, Gefühlen und Gedanken betrachten können. Sexualität kann zum Beispiel auch mit Macht zu tun haben. Nicht nur mit der Macht des Stärkeren übrigens, es geht hier auch um subtilere Formen von Macht: Die, die in einer Partnerschaft weniger Sex möchten oder ihn ganz verweigern, sind eindeutig die Mächtigeren, obwohl es zunächst so scheinen mag, als sei es umgekehrt. Das muss man sich erst einmal eingestehen! Der Sexual- und Paartherapeut David Schnarch versucht in seinen Büchern zu erläutern, warum Intimität und Sexualität in längeren Beziehungen schwächer werden. Oft ist es so, dass einer der Partner sich bzw. seine Bedürfnisse an den anderen anpasst, häufig sind es die Frauen. Die Herausforderung sei es, wieder ein Gefühl für sich selbst zu entwickeln, das weitgehend unabhängig von der Bestätigungszufuhr des Partners ist: „Das sexuelle Repertoire eines Paares erweitert sich eher durch Konflikte als durch Kompromisse.“
Wünsche und Erwartungen
Obwohl überall ständig direkt oder indirekt von Sex die Rede ist, sprechen wir selten über unsere eigenen Wünsche und Erwartungen. Sexualität ist so viel mehr als nur der Akt an sich! Dass das Thema recht einseitig dennoch omnipräsent ist, suggeriert vielen, dass Sex etwas ist, das man ständig haben und worin man gut sein muss. Das erzeugt einen immensen Druck. Ich sprach neulich mit einer Freundin, die auf der Suche nach einem Partner die Erfahrung machte, dass „ganz normaler“ Sex heutzutage anscheinend vollkommen out sei. Es müsse schon Sex zu dritt, außerhalb der Ehe, mit Hilfsmitteln wie Kabelbindern und ähnlichen Accessoires sein – und zwar von Anfang an. Das sei ihr eigentlich viel zu viel. „Ich wünsche mir doch nur ganz normalen schönen Sex mit Nähe und ohne viel Drumherum“, sagte sie entmutigt. Diesen oder auch andere Wünsche überhaupt zu formulieren und auszusprechen, kann ein erster Schritt zu einem erfüllten Sexualleben sein.
Denn allzu häufig bleibt Wesentliches ungesagt, aus Angst, sich eine Blöße zu geben oder den anderen zu verletzen. Sexualität verändert sich im Laufe des Lebens: mit zunehmendem Alter, in einer langen Partnerschaft, nach der Geburt von Kindern oder auch, wenn einer der Partner sich – zum Beispiel durch eine Gewichtszu- oder -abnahme – äußerlich sehr verändert. Das ist vollkommen normal und kein Grund, sich selbst infrage zu stellen. Manchmal kann es jedoch geschehen, dass ein Paar dann in eine Art Teufelskreis gerät, die eine macht Druck, der andere zieht sich als Reaktion darauf immer mehr zurück, oder beide vermeiden das Thema um des lieben Friedens willen und Sex findet gar nicht mehr statt. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, sich Beratung von außen zu holen und gemeinsam ein Paarseminar zu besuchen oder einen Paartherapeuten aufzusuchen, um wieder ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, welche alten Verletzungen eventuell in der Beziehung bestehen und welche Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen bislang unausgesprochen blieben.
Voulez-vous coucher avec moi?
Auch der Alltag kann ein Lusttöter sein. Sorgen beispielsweise junge Eltern für ihren Nachwuchs und sind sozusagen im „Kümmer-Modus“, kann sich das auch auf die Beziehung ausweiten – in diesem Modus hat Sexualität oft nur noch wenig Platz. Auch das ist vollkommen normal. Hilfreich wäre hier, sich bewusst in die andere Rolle zu begeben, indem man sich zum Beispiel zu einem Rendezvous miteinander verabredet – das geht auch zu Hause. Sich überhaupt wieder als Mann und Frau zu begegnen, ist schon eine Form von Sexualität.
Vielleicht reicht es zunächst auch, körperlich wieder in Kontakt zu treten, ohne tatsächlich miteinander zu schlafen. Wichtig ist, einen Zeitraum zu wählen, der gleichzeitig ein Freiraum ist, in dem beide Partner dem Alltag entfliehen und wieder ganz sie selbst sein können. Es hilft, sich diesen Zeitraum bewusst freizuhalten und die Umgebung entsprechend zu gestalten. Vielleicht ist es schön, sich für ein Wochenende in einem Hotel einzumieten – das kann auch in der eigenen Stadt sein! – oder für einen Abend einen Raum zu Hause besonders zu gestalten. Sie könnten zum Beispiel mal auf einem Bett aus Kissen und Matten gemeinsam Leckereien mit den Händen genießen, einen besonderen Duft, eine schöne Beleuchtung wählen… es geht darum, möglichst alle Sinne anzusprechen und zu genießen! Sie werden sehen, dass Sie sowohl sich selbst als auch Ihren Partner oder Ihre Partnerin in einem anderen Licht sehen werden. Und das Ganze bekommt wieder mehr Leichtigkeit. Vielleicht mögen Sie sich gegenseitig etwas vorlesen oder in dem Büchlein „Think Love. Das indiskrete Fragebuch“ des Sexualtherapeuten Ulrich Clement schmökern und sich gegenseitig fragen, was Sie schon immer voneinander wissen wollten. Und vielleicht erleben Sie in so einem Moment wieder, dass Ihre Sexualität und Verbundenheit Ihre Privatsache ist und nichts mit denen da draußen zu tun hat.
Viel Freude dabei!
von Antje Ritter für WW Magazin